06. Juni 2023

Wahlen in Türkiye: Sieg für Ultranationalismus und Paternalismus

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Récep Tayyip Erdoğan wurde zum dritten Mal zum Präsidenten der Türkei gewählt: Was bedeutet dieser Sieg? Und welche Konsequenzen hat er für die türkische Gesellschaft?

Wahlen in Türkiye: Sieg für Ultranationalismus und Paternalismus

In diesem Jahr, in dem der 100. Jahrestag der Gründung der türkischen Republik gefeiert wird, wird Recep Tayyip Erdoğan mit über 52% der Stimmen zum dritten Mal zum Präsidenten des Landes gewählt. Auf dem Dach eines vor seiner Residenz in Istanbul geparkten Busses stehend (und nicht auf dem Balkon der AKP-Zentrale) wendet er sich symbolisch an seine treuen Wähler*innen: Er steigt nicht als Parteichef auf, sondern als Mann der Vorsehung, der seine autoritäre Politik1  seit mehr als 20 Jahren in einem tief gespaltenen Land fortsetzt.

Im Mittelpunkt stehen die Ergebnisse dieser Wahlen, welche die hierarchische Struktur der Türkei rund um die Figur des 'starken Mannes' widerspiegeln und in denen seine Interpretation des Nationalismus maßgeblich ist.

Hinter diesem Sieg, der allen Prognosen widersprach, steht zweifellos ein Sieg des Nationalismus. Der Nationalismus, der seit 1924 2 in Artikel 2 der Verfassung verankert ist, erscheint bei dieser Doppelwahl - der Wahl des Parlaments (der Großen Türkischen Nationalversammlung) und der Wahl des Präsidenten - als gemeinsames Vehikel aller kandidierenden Parteien. Jede der großen Koalitionen (die des Präsidentenlagers und die der Opposition) bietet ihre eigene Interpretation des türkischen Nationalismus an, und es ist die Interpretation von Erdoğan, die überzeugte. Warum?

„Glücklich derjenige, der sich als Türke bezeichnet“

Diese berühmten Worte von Mustafa Kemal, genannt Atatük, dem ersten Präsidenten der türkischen Republik im Oktober 1923, sind auch die Worte von Recep Tayyip Erdoğan, der dieses Gründungsprinzip des Kemalismus zu verkörpern wusste, indem er ihm das Glück hinzufügte, sich als Muslim zu bezeichnen3.  Seine Rede am Abend des Wahlsieges drehte sich um dieses Ritornell, wobei er beiläufig diejenigen, die nicht für ihn gestimmt hatten, beschuldigte, das Land gefährden zu wollen. Darüber hinaus verkörpert der ehemalige Premierminister von 2003 bis 2014 und seit 2014 Staatspräsident die türkisch-islamische Synthese. Diese Ideologie, die in den 1970er Jahren4  entwickelt und in den 1980er Jahren, als die Militärjunta an der Macht war, verbreitet wurde, bildet die Grundlage für eine offizielle Definition des türkischen Nationalismus. Sie vereint die beiden Komponenten der nationalen kulturellen Identität der Türkei, nämlich Ethnizität ("die Vergangenheit der Türken") einerseits und den sunnitischen Islam andererseits. Mit anderen Worten: In der Türkei gibt es eine Verflechtung von Islam und Laizismus5  : Die Türkinnen und Türken verstehen sich als Fahnenträger*innen und Schutzschilde des Islam. Genau mit dieser ethnisch-konfessionellen Allianz hat Erdoğan geschickt gespielt.

Auf der einen Seite konnte Recep Tayyip Erdoğan neben seinem Bündnis mit der Partei der Großen Einheit (BBP) und der Yeniden Refah (Erneuerung der Wohlstandspartei) vor allem von der Unterstützung der nationalistischen Partei MHP profitieren. Diese Koalition mit dem Namen Cumhur Ittifakı (Volksallianz) ist nicht neu, sondern stammt aus dem Jahr 2015. So erlangte das Präsidentenlager nach den Parlamentswahlen am 14. Mai 2023 in einem Wahlgang die absolute Mehrheit in der Großen Nationalversammlung der Türkei, d.h. 321 Abgeordnete von 600 Sitzen. Anschließend konnte er auf die Unterstützung seiner Verbündeten zählen, als es in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen mit über 52 Prozent der Stimmen gegen den sozialdemokratischen Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu antrat, der insgesamt 47,8 Prozent der Stimmen erhielt.

Zum anderen basierte Erdoğans Rede auf dem Gegensatz zwischen sunnitischen Musliminnen und Muslimen und den anderen, d.h. den Musliminnen und Muslimen der heterodoxen Glaubensrichtungen (wie den Aleviten, die ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen und denen auch Kemal Kılıçdaroğlu angehört)6  , den Kurden und den Liberalen. So gelang es ihm, die Aufmerksamkeit der Wähler*innen von seinen wirtschaftlichen Entscheidungen, die für die aktuelle Wirtschaftskrise verantwortlich sind, auf kulturelle, wenn nicht gar religiöse Themen zu lenken. Diese Identitätspräferenz zeigt sich auch in den traditionell Erdoğan-freundlichen Regionen (Zentralanatolien, Schwarzes Meer) sowie in den vom Erdbeben im Februar 2023 betroffenen Gebieten, wo die Wähler*innen im ersten Wahlgang massiv für ihn gestimmt haben7.

Der Sozialdemokrat Kemal Kılıçdaroğlu (Vorsitzender der Republikanischen Volkspartei, CHP) steht seinerseits an der Spitze einer bunten Koalition aus sechs Parteien, die als "Sechser-Tisch" bezeichnet wird. Diese Koalition vereint Konservative und Liberale (ehemalige AKP-Kader, die die Partei verlassen haben), islamistische Personen (die Erdoğan in der Korruptionsfrage, nicht aber in der Frage der moralischen Werte ablehnen), Anhängende des Laizismus, Nationalismus und Pro-Europäer*innen.

Er trat als "stille Kraft" auf und versprach für den Fall seines Sieges eine demokratische Wende, die Rückkehr zum parlamentarischen System und ein Ende der "konfessionellen Streitigkeiten, die dem mehrheitlich sunnitischen Land Leid gebracht haben".

Im Gegensatz dazu muss festgestellt werden, dass sich die nationalistische Rede von Kemal Kılıçdaroğlu in der Zeit zwischen den Wahlperioden mit einem anti-syrischen Diskurs gedoppelt hat: In Bezug auf die Wirtschaftskrise, die das Land trifft, schlug er einen Ton und Wahlkampfthemen an, die vom Ultranationalismus inspiriert waren, indem er offen die Ausreise syrischer Flüchtlinge forderte8.

Die Kurdinnen und Kurden wiederum, die seit 2015 im offenen Konflikt mit Erdoğan stehen, konnten bei den Präsidentschaftswahlen keine kandidierende Person aufstellen, unterstützten aber den Kandidaten Kılıçdaroğlu.

Ein einzelner Mann an der Spitze eines gespaltenen Landes

Am Tag nach dem Wahlsieg erscheint die türkische Gesellschaft gespaltener denn je: 27,7 Millionen Stimmen für Recept Tayyip Erdoğan gegenüber 25,4 Millionen für seinen Herausforderer in einem Land mit über 64 Millionen Wahlberechtigten. Diese Spaltung der türkischen Gesellschaft als Ergebnis von Erdoğans Politik wird noch deutlicher, wenn man das Profil der Wähler*innen genauer betrachtet.

Tatsächlich verzeichnet das Register des Kassationsgerichts 11 Millionen AKP-Anhängende bei einer Gesamtbevölkerung von 85 Millionen. Erdoğan verfügt über eine starke militante Basis: Er kann auf die ideologische Unterstützung konservativer, islamistischer, frommer Kreise in den Kleinstädten und Dörfern des Hinterlandes zählen.

Ihre Wahrnehmung der Inflation ist nicht so stark wie in den großen Metropolen Istanbul, Ankara, Adana und Denizli, die unter steigenden Preisen für Mieten, Transport und Konsumgüter leiden. Mit einer AKP-Karte ausgestattet, können sich die Anhängende des Präsidialregimes sicher sein, dass sie von den Sozialleistungen und dem Klientelnetzwerk der AKP profitieren und sich unter dem Schutz eines starken, beruhigenden und beschützenden Mannes positionieren.

Ebenso können die Geschäftsführenden von kleinen und mittelständischen Unternehmen von einem Zinssatz profitieren, der unter der Inflationsrate liegt. In diesem Sinne verkörpert Erdoğan den unterstützenden Staat, der Hilfen an seine Bevölkerung verteilt, die ihrerseits in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Staat steht.

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Diese Machtkonzentration in den Händen eines einzigen Mannes spiegelt die Organisation der türkischen Gesellschaft wider: Das Oberhaupt der Nation ist gleichzeitig das Oberhaupt der Gruppe, das Familienoberhaupt an der Spitze einer pyramidalen Hierarchie. Da er seine Macht kaum delegiert, ist er eine distanzierte, respektierte und manchmal gefürchtete Figur. Ähnlich wie ein Vater dirigiert er, trifft Entscheidungen und seine Beziehungen zu seinem Team sind stark kodifiziert.

Die Leitung eines türkischen Teams erfordert eine subtile Herangehensweise, bei der man sich erst beraten und dann durchsetzen muss. Man muss sich die Zeit nehmen, die lokalen Entscheidungsträger*innen und ihre Teams kennenzulernen, um von ihrer Unterstützung zu profitieren. Es bedeutet auch, den Zusammenhalt einer Gruppe zu berücksichtigen, die solidarisch und stolz darauf ist, ... Türkisch zu sein!

1 Die Türkei erlebt seit einigen Jahren eine Reihe von politischen Krisen, die insbesondere mit der zunehmenden Kontrolle der AKP über die Institutionen zusammenhängen. Diese Kontrolle wird heute als "kompetitiver Autoritarismus" (Şebnem, Gümüşçü und Berk, Esen, "Rising Competitive Autoritarianism in Turkey",in Third World Quarterly, 2016, S. 1581-1606), "neuer Autoritarismus" (Murat, Somer, "Understanding Turkey's Democratic Breakdown: old vs. new and indigenous vs. global authoritarianism", in Southeast European and Black Sea Studies, 2016, S. 481-503) oder sogar "harten Totalitarismus" bezeichnet (Cihan, Tuğal, "In Turkey, The Regime Slides from Soft to Hard Totalitarianism", Open Democracy, 2016).

2 Die revidierte Verfassung gründete in Artikel 2 den türkischen Staat auf sechs Prinzipien (Republikanismus, Nationalismus, Populismus, Etatismus, Laizismus und Reformismus), die auch die Prinzipien der einzigen Partei, der Republikanischen Volkspartei, waren (die sechs Pfeile des Kemalismus). Tatsächlich haben drei dieser Prinzipien den türkischen Staat nachhaltig geprägt: Laizismus, Republikanismus und Nationalismus.

3 Zu diesem Thema siehe den Beitrag von Ahmet Insel, « Erdoğan continue de répondre à une aspiration sociale fortement ancrée dans la société turque », Le Monde, 17. Mai 2023.

4 Das Forschungsinstitut für türkische Kultur (TKAE) und der Intellektuellenclub (Aydınlar Ocagı, 1971) sind die wichtigsten Instrumente zur Verbreitung dieser Synthese. Für eine umfassende Definition der türkisch-islamischen Synthese siehe Etienne Copeaux, Espaces et temps de la nation turque. Analyse d'une historiographie nationaliste (1931-1993), CNRS Éditions, 1997, S.78.

5 Mustapha Kemal führte in der Türkei den Laizismus und nicht den Säkularismus ein, insofern als der Staat den Islam kontrolliert (vgl. Jean Baubérot). Für eine Analyse der Säkularisierungsmodelle siehe Jean Baubérot und Micheline Milot, Laïcités sans frontières, Paris, Seuil, 2011.

6 Vgl. dazu das Interview mit Elise Massicard, "Élections en Turquie: En se revendiquant alévi, Kemal Kılıçdaroğlu a brisé un tabou", Le Monde vom 10. Mai 2023.

7 In Maras stimmten 71% der Wähler im ersten Wahlgang für die AKP (gegenüber 22% für die Opposition), in Hatay waren es 48%. Siehe Karten und Daten zu den Präsidentschaftswahlen in der Türkei (Mai 2023) unter: cartonumerique.blogspot.com/2023/05/elections-Turquie-2023.html

8 Vgl. hierzu den Artikel in Le Monde vom 20. Mai 2023, "Turquie: le dangereux virage à droite de l'opposition", in dem die beiden Korrespondenten Nicolas Bourcier und Angèle Pierre über die Offensive des Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei (CHP) berichten: In einem Video wettert er gegen die Zahl der Flüchtlinge, die sich auf türkischem Staatsgebiet niedergelassen haben: « Nous n’abandonnerons pas notre patrie à cette mentalité qui a introduit 10 millions de sans-papiers parmi nous », ", ruft er am 17. März 2023 aus.

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